Die Haltung des Menschen

Wenn ich über die Haltung des Menschen spreche, meine ich damit seine Einstellungen. Ich meine damit, wie er mit sich, den Mitmenschen, der Umwelt umgeht. Es geht nicht darum, was er sagt, sondern was er tut. Es geht um seine Gesten, seine Absichten und ihre Folgen im Zusammenhang der Verflechtungen von allem Existierenden. Es geht also, um es in WTU Sprache auszudrücken, um die Wechselwirkungen.

 

Haltung hat natürlich auch mit dem Körper zu tun. In der Körperhaltung kann man die Einstellung zum Leben erkennen. Jeder kennt die Opferhaltung und die Unterwerfungsgesten. Wir sprechen von einer aufrechneten Gesinnung, wir sprechen von Aufrichtigkeit, wir sprechen von Richtigkeit. All diese Begriffe schließen eine räumliche und/oder zeitliche Koordinate mit ein. Mit einer Bewegung in Raum und Zeit wird also unsere Haltung sichtbar. „An ihren Taten werdet ihr sie erkennen“, ist ein schönes Motto, das uns in diesem Zusammenhang überliefert ist.

 

Es gibt natürlich Menschen, die andere Menschen durch eine vorgetäuschte Haltung täuschen, oder glauben täuschen zu können. Doch wen sie wirklich dabei immer täuschen: sie täuschen sich selbst.

 

Oft denken Menschen, sie könnten sich durch eine vorgetäuschte Haltung etwas erschleichen. Nur materielle Dinge kann man sich auf diese Art erschleichen und wenn sie auf diese Art erworben wurden, verbiegen sie uns. Alles Wirkliche kann man nicht vortäuschen oder auf diese Art erwerben. Geheimnisse schützen sich selbst. Nicht weil sie geheim sind, sondern weil sie der richtigen Haltung, der richtigen Annäherung bedürfen, damit ein Mensch sich dort hin bewegen kann, wo das Verständnis und die Einsicht zu ihm werden.

 

Die falsche Haltung verhindert diesen Prozess. Der Mensch wird das natürlich ganz anders interpretieren. Er muss es ja vor sich selbst legitimieren, sonst müsste er sich und seiner Unaufrichtigkeit, und Verkehrtheit ins Auge blicken. 

 

Beim Unterrichten und Lernen eines Fortgeschrittenen geht es praktisch nur noch um die Haltung.

Auf diesem Level ist nur noch die verkehrte Haltung, Einstellung, Absicht das Hindernis, das zwischen dem Fortschritt und einem Selbst steht. Die Schulung eines wirklichen Lehrers wird daher nur Situationen erzeugen, in denen der Schüler seine Haltung auf die Probe stellen und verbessern kann.

 

Beim Anfänger sind es die Rahmenbedingungen der Unterrichtssituation, die auf die Haltung hinweisen. Im WTU Wing Tsun zum Beispiel die Schulordnung oder beim Schulleiter die Lizenzvereinbarung. Diese definiert die Rahmenbedingungen und damit die Einstellung und Haltung und die äußeren Bedingungen der Absicht, mit der jemand am Unterricht teilhaben soll.

 

Durch eine verkehrte Haltung beginnen wir wachstumsträchtige Situation zu stören. Durch eine vorgetäuschte „richtige“ Haltung versuchen wir Inhalte zu erschleichen, die man auf diese Art nicht erlangen kann und zerstören für uns selbst eine wirkliche Gelegenheit zum inneren Wachstum und äußeren Wachstum. 

 

Die Basis jeder Haltung ist die Aufmerksamkeit. Wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht im Gleichgewicht sind, wird alles zu einem Handel um Aufmerksamkeit. Wir werden es ganz anders benennen, aber das ist die Wahrheit. In Wirklichkeit sind wir unaufrichtig zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen und zu unserer Umwelt. Wir benützen alles nur wegen unseres Ungleichgewichts. Womöglich stellen wir uns aber als Samariter oder Weltretter dar.

 

 

Ohne die richtige Haltung, Einstellung Absicht ist ein inneres Wachstum nicht möglich. Die Natur hat daran kein Interesse beim Menschen. Das einzige, das wir damit erreichen ist, dass wir und unsere angehäuften Materien am Komposthaufen der Zeit landen. Darüber hinaus haben wir keine Bedeutung.

 

Unsere verkehrte Haltung kann zum einen ein Hindernis für Andere werden. Ein Hindernis ist sie dann, wenn sie den Anfänger täuscht und er von unserer Haltung so verwirrt wird, dass er in die Irre gerät. Die Folgen haben wir verschuldet und wir zu tragen, auch wenn wir das nicht bereit sind zu erkennen und dann gerne von Unglück und Schicksal sprechen.

 

 

Darüber hinaus wird Hierarchie und Qualifikation verwechselt und das verursacht viele verwirrende Fehlhaltungen mit ihren Folgen. Besonders Menschen, denen es an der richtigen Haltung in einer Situation fehlt, bemühen gerne diese Begrifflichkeiten. Eine bürokratische Hierarchie glaubt an das erworbene Recht als unabänderlichen Zustand. Eine Qualifikation hat aber immer mit einer innewohnenden Funktion zu tun, die aus Notwendigkeit erfüllt werden muss und nicht mit einem erworbenen Zustand. Das sind zwei verschiedene Dinge. Der Wegfall der Hierarchien bedarf immer eines vorhandenen Reflektionsvermögens und einem entsprechenden Reifegrad aller Beteiligten. Das ist die Grundvoraussetzung für das Ende der Hierachien.

 

Alle Gesten spiegeln eine Haltung wieder. Es gibt Gesten, die einer bestimmten Kultur und Zeit und ihren Gegebenheiten entsprechen. Deshalb sollte man vorsichtig sein, wenn man etwas einfach kopiert, weil es exotisch ist. Was wir heute auf keinen Fall brauchen sind Unterwerfungsgesten. Doch hinter vielen modischen Erscheinungsformen der Anpassung stehen nur primitive Unterwerfungsgesten und werden unausgesprochen auch eingefordert, aber nicht als solche erkannt. 

 

Durch die richtige Haltung sind wir Vorbild und Vorbild sein ist eine Führungsfunktion, die auf Qualität, Einsicht und Verständnis in die Wechselwirkungen des Seins beruht. Vorbild sein ist führen in alle Richtungen. Wir sollten lernen ein Vorbild als Mensch zu sein, doch nicht in seiner biederen Engstirnigkeit, sondern in seinen grenzenlosen Potentialen mit offenem Herzen.

 

Es gibt kulturelle Zeiterscheinungen, Moden in allen Bereichen. Doch der Kernbereich des Menschseins kann davon nicht betroffen sein. Zu diesem Kernbereich gehören: Achtsamkeit, Dankbarkeit, Angemessenheit, Respekt, Fleiß, Mut, Toleranz, Aufrichtigkeit. Und all diese Begriffe haben mit Haltung zu tun und spiegeln sich im Benehmen und im Umgang mit der Umwelt wieder.

 

All das nenne ich Wechselwirkungen im Netz der Existenz.

 

Die richtige Haltung ist sich ihrer Folgen bewusst und wird sich immer bewusster. Sie beginnt immer mehr die Vernetztheit von allem Existierenden zu erkennen und wächst zu einem erweitertem Bewusstsein in diesem Netzwerk des Seins und der Entfaltung.

 

Der Mensch ist ein offenes Buch und kann nichts verbergen, wenn sein Gegenüber wach ist. 

Deshalb beginnt jedes wirkliche Lernen, jede wirkliche Haltung bei einer Sache:

 

„Erkenne dich selbst!“

 

 

SALVE

Si-Fu / Si-Gung 

GM Alfred Johannes Neudorfer