Vom Äußeren zum Inneren - Die vier Verständnis-Ebenen des Wing Tsun

 

Wing Tsun ist kein geschützter Begriff. Das bedeutet, man kann nicht von DEM Wing Tsun sprechen. Über die Jahrzehnte haben sich unterschiedliche Schreibweisen, Interpretationen und Schwerpunkte entwickelt. Wer diese Vielfalt beobachtet, kann sehen, dass das, was heute unter Wing Tsun verstanden und gelehrt wird, stark vom Verständnis des jeweiligen Trainers oder Lehrers abhängt und ebenso vom Stilgründer der Organisation, aus der er stammt.

Bei genauer Beobachtung lassen sich vier Verständnisebenen erkennen, die diesen Weg beschreiben – von der äußeren Form bis zur inneren Freiheit. Denn aus meiner Sicht ist Wing Tsun kein technisches Training, sondern ein Werkzeug zur Entfaltung des Potentials des Menschen. 

 

1. Die technische Ebene

Am Anfang steht das Handwerk. Hier geht es um Formen, Winkel, Bewegungsabläufe, Kraftsätze und Techniken. Der Schüler lernt, wie eine Bewegung aussieht, wie man effizient agiert und welche Struktur hinter einer Technik steckt. Das gibt Sicherheit und man hat etwas Greifbares, etwas, das man wiederholen und verbessern kann. Doch genau darin liegt auch eine gewisse Falle: Man kann leicht in der Form stecken bleiben. Technik kann Halt geben, aber sie bleibt letztlich etwas Äußeres, wenn man sie stumpf wiederholt, anstatt immer mehr Bewusstsein reinzubringen. Man hält sich an der äußeren Schale, der Form fest. Das Wing Tsun der 80er und 90er Jahre war ein rein technisches Wing Tsun. Viele betreiben auch heute nur technisches Wing Tsun. 

 

2. Die biomechanisch-prinzipielle Ebene

Mit der Zeit beginnt man zu verstehen, dass hinter den Techniken Prinzipien stehen. Man versteht, die Funktion hinter jeder Bewegung. Man sieht keine Abläufe mehr, sondern Situationen. Es geht nicht mehr nur darum, wie man etwas macht, sondern warum es funktioniert. Hier lernt man die Physik, Hebelwirkung, Struktur und Energieumlenkung. Man lernt, Kräfte zu nutzen, statt gegen sie zu arbeiten.

Das ist eine wichtige Entwicklung. Man löst sich von der reinen Nachahmung und fängt an, die Mechanik des eigenen Körpers wirklich zu begreifen. Aber auch hier kann man sich verlieren. Man wird zwar feiner, schult enorm den Tastsinn, aber bleibt doch noch im Reich des Physischen. Manche behaupten sogar, das sei Chi oder gar Magie 😂. Dazu kann ich nur sagen: „Bitte bemühe nicht solche Begriffe, wenn es um reine Naturgesetze und Logik geht, denn das ist die Menschen in die Irre führen!“ 

 

3. Die Ebene der Aufmerksamkeit und Befreiung von Konditionierung

Ab einem gewissen Punkt merkt man, dass es im Wing Tsun nicht nur um Bewegung geht, sondern auch um Bewusstsein. Man lernt, Menschen zu lesen aber noch wichtiger: man beginnt, sich selbst zu lesen. Wie reagiere ich in Drucksituationen? Welche Muster wiederholen sich immer wieder? Wo bin ich unbewusst gesteuert?
Wing Tsun wird an dieser Stelle zu einer Schule der Wahrnehmung. Es geht darum, Automatismen zu durchschauen und aus einem Zustand von Präsenz zu handeln. Nicht mehr die Konditionierung steuert das Handeln, sondern ein klarer, wacher Moment. Wenn das gelingt, verändert sich nicht nur das Training, sondern auch das Leben außerhalb. 

 

4. Die energetische Ebene

Die letzte Ebene ist die subtilste auch am schwierigsten zu beschreiben. Hier geht es nicht mehr um Technik oder Prinzipien, sondern um Energie. 

Bewegung entsteht dann nicht mehr aus aktiver Willenskraft, sondern aus einem inneren Impuls, der den Körper führt. Man kämpft nicht gegen einen Angreifer, man lenkt auch nicht seine Energie um oder weicht aus. Man assimiliert die Energie an Ort und Stelle mittels dem Spiralkonzept, welches wir in der WTU im Bereich der Biu Tze und des Schwertes beginnen einzusetzen. So wird Bewegung zu etwas ganz anderem – zu einer Art Transformation, in der man nicht mehr „gegen“ etwas arbeitet, sondern sich in der Energie des Moments bewegt.
Hier sind wir im Bereich, den wir in der WTU „Schule des Augenblicks“ nennen. 

 

Diese vier Ebenen bauen nicht wie Stufen einer Leiter aufeinander auf, sondern sie durchdringen sich wie konzentrische Kreise. Stelle es dir vor wie die Schalen einer Zwiebel. Man arbeitet sich von außen nach innen. Gurdjieff verwendete den Begriff der exoterischen, mesoterischen und esoterischen Ebene. Dieses kennt man auch in Antiken Mysterienschulen und Gurdjieff hat es von den Sufis übernommen und auf seine Lehre angewendet. Also von dem mechanischen äußeren Menschen zum bewussten Menschen. 

 

Die ersten beiden, also die technische und die biomechanische-prinzipielle Ebene ordne ich dem exoterischem Wing Tsun, die dritte, also die Ebene der Aufmerksamkeit und der Befreiung von Konditionierungen der mesoterischen und im esoterischen Bereich befinden wir uns in der energetischen Ebene. 

 

Wing Tsun ist für mich kein System aus festgelegten Bewegungen, sondern ein Weg.


Ein Weg, der bei der Form beginnt und bei der Freiheit endet. Jede Ebene bleibt bestehen. Die Technik verschwindet nicht, sie wird nur durchdrungen von mehr Verständnis, mehr Bewusstheit, mehr Energie.

 

Dai-Sifu Rosa Ferrante Bannera